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Rückwärtsgang für altersbedingten Gedächtnisverlust?

Geschrieben von:

Kornelia C. Rebel

Medizinisch überprüft von:

Dr. Barbara Müller

Inhaltsüberblick

Zuletzt aktualisiert am 25. November 2022 um 15:47

Chondroitinsulfat fördert Neuroplastizität und Gedächtnis

Mit zunehmendem Alter leidet bei vielen Menschen das Gedächtnis. Senioren haben im Laufe ihres Lebens zahlreiche Erinnerungen angesammelt. Auch wenn Demenz keine Rolle spielt, funktioniert das Gedächtnis meist nicht mehr so klar wie in jüngeren Jahren.

Verantwortlich dafür sind die ganz normalen Alterungsprozesse, die vor dem Gehirn nicht haltmachen. Die Gehirnsubstanz schrinkt. Die weißen Gehirnzellen neigen zu Läsionen. Kein Wunder, dass das Gedächtnis ebenso leidet wie die Neuroplastizität – die Fähigkeit von Neuronen, neue Verbindungen zu schaffen.

Interessanterweise beeinträchtigt das Altern unterschiedliche Gehirnfunktionen in verschiedener Weise. Das zeigt sich besonders gut am Gedächtnis. Das semantische Gedächtnis, das Wissen von Fakten und Konzepten, bleibt lange erhalten. Besonders intensiv bleiben Erinnerungen an die Kind- und Jugendzeit im Gedächtnis haften.

Das episodische Gedächtnis, das Erinnern an kurz zurückliegende Ereignisse, das Kurzzeitgedächtnis und das Arbeitsgedächtnis lassen jedoch nach. Vermutlich sind zahlreiche Mechanismen für diese altersbedingten Schäden verantwortlich. Subklinische Entzündungen, Schäden am Erbmaterial und schwächelnde Mitochondrien, die Energiekraftwerke der Zellen, können dazu beitragen.

Wichtig für die Gehirnfunktionen sind auch die perineuronalen Netze. Wie ihre Zusammensetzung das Gedächtnis und die Neuroplastizität beeinflusst, hat ein Team von internationalen Wissenschaftlern jetzt an alternden Mäusen untersucht. Eine Substanz scheint dabei ganz besonders wichtig zu sein: das Makromolekül Chondroitin-6-Sulfat. Es ist eigentlich ein Polysaccharid und damit ein Kohlenhydrat.

Im perineuronalen Netz des Gehirns ist es jedoch an Proteine gebunden, die den Raum zwischen den Gehirnzellen ausfüllen. Diese Netze von unterstützenden Proteinen wurden bereits 1893 entdeckt. Lange galten sie als eine Art Korsett für die Gehirnzellen.

Erst in den 90er Jahren stellte sich heraus, dass diese Netze die Funktion der Gehirnzellen entscheidend beeinflussen können. Mit zunehmendem Alter verändert sich jedoch ihre Zusammensetzung. Die Mitte Juli veröffentlichte Studie zeigt jetzt, dass diese Veränderungen für Gedächtnisprobleme verantwortlich sein könnten.

Die perineuronalen Netze im Gehirn bestehen in erster Linie aus zwei Arten von Chondroitinsulfat: C6S und Chondroitin-4-Sulfat (C4S). Nach Auskunft der Forscher unterstützt C6S das Wachstum von Axonen, den Nervenfasern der Gehirnzellen. Das fördert die Plastizität der Gehirnzellen, neue Verbindungen zwischen Nervenzellen, eine Voraussetzung für agile Gehirnfunktionen. C4S dagegen ähnelt einem Korsett aus Stahl. Es unterstützt die Gehirnzellen, erlaubt aber keine Flexibilität. Im Alter kommt CS4 offensichtlich in größeren Mengen in den perineuronalen Netzen vor.

Für die aktuelle Studie verglichen die Wissenschaftler zunächst das Gedächtnis von alten und jungen Mäusen. Erwartungsgemäß schnitten die alten Mäuse dabei schlechter ab als ihre jüngeren Artgenossen.

In einer Reihe von Experimenten fanden die Forscher heraus, welche Folgen gentechnische Veränderung der perineuronalen Netze hatten. Wurde der Anteil von C4S erhöht, zeigten die Nagetiere einen vorzeitigen Gedächtnisverlust.

Mit einem viralen Vektor führten die Forscher anschließend das Enzym CHST3 (Carbohydrat-Sulfotransferase-3) in das Gehirn ein. Dieses Enzym lässt C6S entstehen. Diese Aktion stellte die Gedächtnisleistung sogar bei sehr alten Mäusen wieder her. Auch die gentechnisch veränderten Gedächtnisverlierer konnten damit ihre Gehirnleistung verbessern.

Die Studienautoren schließen daraus, dass Behandlungen für perineuronale Netze im Gehirn das Potenzial haben, altersbedingten Gedächtnisverlust rückgängig zu machen oder zumindest zu lindern.

Interessanterweise stellt ein Antikörper für C4S das Gedächtnis bei Mäusen mit neurodegenerativen Krankheiten wieder her und verbessert die Gedächtnisleistung bei normalen Mäusen. Obwohl Nagetiere keine Menschen sind, lassen diese Untersuchungen hoffen. Die perineuronalen Netze sind offensichtlich ein lohnendes Ziel für mögliche Behandlungen.

Quelle:

Yang S, Gigout S, Molinaro A, Naito-Matsui Y, Hilton S, Foscarin S, Nieuwenhuis B, Tan CL, Verhaagen J, Pizzorusso T, Saksida LM, Bussey TM, Kitagawa H, Kwok JCF, Fawcett JW. Chondroitin 6-sulphate is required for neuroplasticity and memory in ageing. Mol Psychiatry. 2021 Jul 16. doi: 10.1038/s41380-021-01208-9. Epub ahead of print. PMID: 34272488. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34272488/)

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