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Evidenzbasierte Medizin – Was bedeutet das?

Geschrieben von:

Martin Auerswald, M.Sc.

Medizinisch überprüft von:

Inhaltsüberblick

Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2019 um 15:07

Evidenzbasierte Medizin ist demnach „evidenzbasiert“ (nachweisbasiert) die Forderung, die Behandlung eines Patienten sowohl

a) nach der klinischen Erfahrung des behandelnden Arztes als auch

b) nach vorliegender Studien-Evidenz abzuwägen.

Die Behandlung eines Patienten sollte demnach nur eingeleitet werden, wenn ein bestimmtes Verfahren intern (Erfahrung des Arztes) und extern (Studiennachweise) evidenzbasiert ist. Der Patient soll die bestmögliche Behandlung erfahren. Nach dieser ursprünglichen Definition steht der Patient im Vordergrund.

Obwohl diese Richtung noch relativ neu ist, ist sie in der Medizin schon lange etabliert. Leider erlaubt die evidenzbasierte Medizin auch Entwicklungen, durch die der Patient mehr und mehr in den Hintergrund gerät. Erfahren Sie im Folgenden mehr über den Begriff evidenzbasiert sowie wichtige Kritikpunkte an dieser medizinischen Einstellung.

Was evidenzbasierte Medizin wirklich bedeutet

1996 schrieb D.L. Sackett mehrere Beiträge in hochrangigen Journalen1-2 wie The Lancet und begründete damit die evidenzbasierte Medizin. Seine primären Beweggründe waren, die Behandlung durch Ärzte im klinischen Alltag zu verbessern und nachvollziehbarer zu gestalten.

Zuvor durfte jeder Arzt behandeln, wie er oder sie es für angebracht hielt. Der Begriff evidenzbasiert fordert jedoch, dass ein Arzt nicht nur seine klinische Erfahrung mit in die Entscheidung einbringt, sondern auch die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Behandlung durch klinische Studien nachweisen kann. Soll heißen: keine klinischen Studien, keine Behandlung.

Die Grundidee von Sackett war sehr gut, da Ärzte sich mehr für Behandlungen rechtfertigen mussten und eine Behandlung nur dann durchführten, wenn sie in klinische Studien und in Erfahrung erprobt worden war. An sich eine gute Sache. Der Patient soll immer die bestmögliche Behandlung erfahren. Das wünscht sich jeder, der in ärztliche Behandlung kommt.

Was in den letzten 20 Jahren jedoch geschah, das hatte auch Sackett nicht vorhergesehen:

Nachteile der evidenzbasierten Medizin

Die Grundidee der evidenzbasierten Medizin war, dass der Patient im absoluten Vordergrund steht und immer die bestmögliche Behandlung erfährt. Eine Behandlung, in der der Arzt bereits erfahren ist und deren Wirksamkeit klinische Studien bestätigt haben.

In der Onkologie, Kardiologie und Chirurgie ist die evidenzbasierte Medizin ein absoluter Grundpfeiler und wichtig. Hier lassen sich Studien gut durchführen und diese auch als akute Medizin oder Notfallmedizin bezeichneten Bereiche führen in den meisten Fällen zu einer deutlichen Besserung der Gesundheit des Patienten und retten jeden Tag Leben.

Wo die evidenzbasierte Medizin an ihre Grenzen gelangt, sind chronische Erkrankungen. Bei chronischen Erkrankungen hört unser aktuelles Medizinsystem zu einem bestimmten Teil auf, zu existieren. Die evidenzbasierte Medizin trägt dabei eine gewisse Mitschuld:

Wie bekannt ist, sind chronische Erkrankungen in der Genetik und in der Lebensführung begründet. Die Lebensführung baut immer auf verschiedenen Grundpfeilern auf: Schlaf, Stressmanagement, Ernährung, Sport, Nährstoffmängel. Komplexe Zusammenspiele, die in bestimmten Krankheiten enden können, oder aber richtig angewandt die Krankheiten beenden können.

Ein weiterer Nachteil der evidenzbasierten Medizin ist, dass RCTs heute absolute Grundlage sind, um als evidenzbasiert eingestuft zu werden:

Evidenzbasierte Medizin und RCTs

Die evidenzbasierte Medizin fordert im Bereich chronischer Erkrankungen als den absoluten Goldstandard RCTs (randomized controlled trials) – zu Deutsch: Placebo-doppelblind-kontrollierte Studien.

Dieses Studiendesign ist jedoch für Medikamente ausgelegt: Vergleiche Medikament A mit Medikament B und einem Placebo; sowohl Ärzte als auch Patienten wissen nicht, wer den neuen Wirkstoff erhält, wer den älteren, und wer das Placebo. Werden nur Medikamente miteinander verglichen, ist dieses Studiendesign natürlich Gold wert.

So effektiv die evidenzbasierte Medizin bei akuten medizinischen Problemen ist, so sehr stößt sie bei chronischen Erkrankungen, die auf komplexe und hoch-individuelle Zusammenspiele zurückzuführen sind, an ihre Grenzen3. Hinzu kommt, dass RCTs sehr teuer sind und eine hohe Finanzierung benötigen. Diese Finanzierung aufzubringen, ist eine große Hürde.

Das meiste Geld für die besten Studien fließt in Projekte, die um Medikamente handeln, nicht um gesunde Ernährung und gesunde Lebensführung. Die evidenzbasierte Medizin fordert jedoch solche Studien (RCTs mit gesunder Lebensführung), in der Praxis sind diese schwer durchführbar, und noch schwerer ist es, dafür Geldgeber zu finden.

Bei chronischen Erkrankungen, die in der Lebensführung begründet sind und durch eine Lebensführung nachhaltig am besten verbessert werden können, funktioniert dieses Studiendesign nicht immer. Zu komplex sind die Zusammenspiele, zu schwer, hier RCTs durchzuführen:

Eine gesunde Ernährung ist nicht evidenzbasiert

Eine Ernährungsumstellung oder eine individuelle Behandlung bei einer chronischen Erkrankung kann man nicht als RCT durchführen:

  1. Eine gesunde Ernährung kann nicht Placebo-kontrolliert werden. Schließlich sieht der Patient, was er da isst. Ein Medikament kann für den Patienten unsichtbar verkapselt werden und ist rein äußerlich mit dem Placebo identisch.
  2. Es ist zeitlich sehr aufwändig, eine Ernährungsumstellung oder ein Regime zum Stressmanagement über Jahre hinweg zu überprüfen – Stichwort Compliance: Setzen die Testpersonen das auch 100 % um?
  3. Groß angelegte Studien müssen finanziert werden. Es gibt kein Unternehmen, das mit gesunder Ernährung viel Geld verdient, geschweige denn für mehrere Millionen Euro eine mehrjährige Studie finanziert. Gesunde Ernährung hat keine Lobby, die Studien finanzieren kann.

Eine gesunde Ernährung ist per Definition nicht evidenzbasiert – und an dieser Stelle rückt der Patient in den Hintergrund. 

Prävention ist nicht evidenzbasiert

Prävention spielt in der gegenwärtigen Medizin keine Rolle. Experten schätzen, dass 80 % bis 90 % aller chronischen Krankheitsfälle durch gesündere Ernährung und Lebensführung vorgebeugt werden könnten.

Die moderne Medizin baut auf Reparatur – auf Behandlung – auf, nicht auf Prävention. Denn diese ist nicht evidenzbasiert, da große Langzeitstudien teuer und aufwändig sind.

Der Bias mit großen Studien

Groß angelegte Studien sind teuer und müssen finanziert werden. Ein häufiger Kritikpunkt an evidenzbasierter Medizin ist, dass bei groß angelegten Studien ein gewisser Bias (kognitive Verzerrung, „Vorbelastung“) vorliegt: Die Geldgeber der Studie möchten einen positiven Ausgang der Studie.

Besonders in Metaanalysen wurde festgestellt, dass hier sehr häufig ein Bias vorliegt und viele dieser Metaanalysen daher nicht wissenschaftlich korrekt durchgeführt wurden4-5.

Es kann nur geschätzt werden, wie viele RCTs, die durchgeführt wurden, einem Bias unterlagen oder Studienergebnisse „angepasst“ wurden, um das Medikament besser dastehen zu lassen und nicht auf den hohen Studienkosten sitzen zu bleiben.

Beobachtungsstudien sind nicht evidenzbasiert

Wenn es um komplexe Zusammenspiele im menschlichen Körper und dem besseren Verständnis/Therapie chronischer Erkrankungen geht, sind RCTs nur schwer durchführbar. Beobachtungsstudien sind hier die beste Grundlage.

Beobachtungsstudien sind jedoch per Definition nicht evidenzbasiert. So gut eine Intervention auch funktionieren mag; auch wenn sie Autoimmunerkrankungen oder Diabetes heilen kann – resultiert diese Intervention in einer Beobachtungsstudie, ist sie nicht evidenzbasiert und wird von medizinischen Gesellschaften wahrscheinlich nicht akzeptiert werden.

Evidenz benötigt Zeit, die viele Menschen nicht haben

Angenommen, es wird eine neue, fortschrittliche Ernährungsform erprobt, die Typ 2 Diabetes heilen kann (rein theoretisches Gedankenspiel). Angenommen, Studien nach Goldstandard können durchgeführt werden und führen zum Erfolg.

Dann dauert es mehrere Jahre, bis diese Studien finanziert, durchgeführt und ausgewertet wurden. Und noch einmal mehrere Jahre, bis sie sich etabliert haben, akzeptiert wurden, und dann als „evidenzbasiert“ bezeichnet werden können.

Bis zu diesem Punkt, an dem ein Arzt einem Typ 2 Diabetiker diese neue Ernährungsform als Behandlung vorschlägt, vergehen etwa 10-20 Jahre. Soviel Zeit haben Betroffene nicht.

Was, wenn es diese Ernährungsform heute schon gibt, sie aber (noch) nicht evidenzbasiert ist, aber Betroffenen wirklich helfen kann? Dann kann der Arzt diese Ernährungsform nicht empfehlen, da er erst noch 10-20 Jahre warten muss, bis diese Ernährungsform als evidenzbasiert gilt.

Um evidenzbasiert zu sein, muss ein Verfahren auch akzeptiert werden

Der moderne Begriff „evidenzbasiert“ besagt auch, dass eine Intervention von medizinischen Gesellschaften akzeptiert werden muss. Das bedeutet, dass eine Studie nach absolutem Goldstandard mit bahnbrechenden Erkenntnissen nicht evidenzbasiert ist, solange sie von den medizinischen Gesellschaften nicht akzeptiert wird.

Eigentlich sollte dank evidenzbasierter Medizin der Patient im Vordergrund stehen. In der heutigen Praxis steht der Patient hinter den Erwartungen und Forderungen großer Gesellschaften und Konzerne.

Deswegen haben es Wissenschaftler schwer, die chronische Erkrankungen nachhaltig und mit natürlichen Behandlungsmethoden angehen wollen.

Deswegen steckt die Forschung und natürliche Therapie vieler chronischer Erkrankungen noch in den Kinderschuhen. Pilotstudien gibt es viele – es gibt zum Beispiel umwerfende interdisziplinäre Pilotstudien an Erkrankten von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa mit bestimmten Ernährungsformen und Phytoextrakten, die zu hohen Remissionsraten führen6-7.

Aber da das Geld für RCTs und natürliche Behandlungsmethoden fehlt, bleibt es bei diesen Pilotstudien. Damit werden diese Interventionen, und seien sie noch so erfolgreich, auch nicht evidenzbasiert.

So haben es ergänzende und alternative Medizinformen wie die Naturheilkunde, die Ernährungsberatung und die Komplementärmedizin schwer, sich zu etablieren.

Und so rückt der Patient bei chronischen Erkrankungen, die etwa 40 Millionen Menschen in Deutschland betreffen, immer mehr in den Hintergrund. Denn chronische Erkrankungen können meist nicht allein mit Medikamenten („evidenzbasiert“) geheilt werden, dafür benötigt es eine gesunde Ernährung und Lebensführung. Eine gesunde Lebensführung ist nicht evidenzbasiert, obwohl sie Patienten wirklich helfen kann. Das System stellt sich dadurch selbst ein Bein, und der Patient rückt in den Hintergrund.

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[su_spoiler title=“Quellenverzeichnis“]

  1. Sackett, D. (1995): Evidence-based medicine. In: Lancet (London, England) 346 (8983), S. 1171.
  2. Sackett, D. L.; Rosenberg, W. M.; Gray, J. A.; Haynes, R. B.; Richardson, W. S. (1996): Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. In: BMJ (Clinical research ed.) 312 (7023), S. 71–72.
  3. Richardson, W. Scott (2017): The practice of evidence-based medicine involves the care of whole persons. In: Journal of clinical epidemiology 84, S. 18–21. DOI: 10.1016/j.jclinepi.2017.02.002.
  4. Felson, D. T. (1992): Bias in meta-analytic research. In: Journal of clinical epidemiology 45 (8), S. 885–892.
  5. Greco, T.; Zangrillo, A.; Biondi-Zoccai, G.; Landoni, G. (2013): Meta-analysis: pitfalls and hints. In: Heart, lung and vessels 5 (4), S. 219–225.
  6. Konijeti, Gauree G.; Kim, NaMee; Lewis, James D.; Groven, Shauna; Chandrasekaran, Anita; Grandhe, Sirisha et al. (2017): Efficacy of the Autoimmune Protocol Diet for Inflammatory Bowel Disease. In: Inflammatory bowel diseases 23 (11), S. 2054–2060. DOI: 10.1097/MIB.0000000000001221.
  7. Lang, Alon; Salomon, Nir; Wu, Justin C. Y.; Kopylov, Uri; Lahat, Adi; Har-Noy, Ofir et al. (2015): Curcumin in Combination With Mesalamine Induces Remission in Patients With Mild-to-Moderate Ulcerative Colitis in a Randomized Controlled Trial. In: Clinical gastroenterology and hepatology : the official clinical practice journal of the American Gastroenterological Association 13 (8), 1444-9.e1. DOI: 10.1016/j.cgh.2015.02.019.

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