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Neuronen im Kleinhirn, die den Appetit drosseln

Geschrieben von:

Kornelia C. Rebel

Medizinisch überprüft von:

Saskia Bauhausen

Inhaltsüberblick

Zuletzt aktualisiert am 24. November 2022 um 16:30

Komplizierter Balanceakt mit Hypothalamus und Dopamin

Der Wunsch zu Essen ist einer der stärksten Triebe in der Natur. Um unseren Appetit zu zügeln und unser Gewicht auszubalancieren, sind starke hemmende Signale nötig. In der Frühgeschichte der Menschheit führte die Knappheit der Nahrung auf natürliche Weise zu einem Ausgleich.

Doch die meisten von uns leben heute in einer Umgebung, in der Essen im Überfluss zur Verfügung steht. Hier beeinflusst ein Zusammenspiel von Appetit und den Reizen der Umwelt, wie viel wir verzehren.

Wenn unser Magen knurrt und wir Essen sehen oder riechen, laufen komplizierte Kaskaden auf der Ebene der Nervenzellen ab. Sie führen dazu, dass wir Nahrung aufnehmen. Idealerweise hören wir auf zu essen, wenn wir uns satt fühlen und keinen Appetit mehr haben.

Allerdings funktioniert dies häufig nicht mehr richtig, wie das weltweite Ansteigen der Menschen mit Übergewicht zeigt. In den 60er Jahren betrug das durchschnittliche Gewicht eines Erwachsenen in den USA 75 kg. Heute ist diese Zahl auf 90 kg angestiegen.

Offensichtlich ist bei vielen Menschen das empfindliche Gleichgewicht zwischen dem Drang zu essen und den Signalen, die diesem Drang entgegenwirken, gestört.

Besonders deutlich zeigt sich das bei Patienten mit Prader-Willi-Syndrom (PWS). Diese genetische Erkrankung führt zu unersättlichem Appetit und damit unweigerlich zu Fettleibigkeit.

Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) wurde eingesetzt, um lokalisierte Stoffwechselveränderungen im Gehirn  beim Ansehen von Bildern mit Lebensmitteln zu entdecken. Dabei zeigte sich, dass bei Personen mit PWS in einer kleinen Region an der Basis des Kleinhirns, den tiefen Kleinhirnkernen (DCN), deutliche Unterschiede zu erkennen waren im Vergleich mit gesunden Menschen.

Als nächstes verwendeten die Studienautoren Zellmarkierungsansätze bei Mäusen, um die Neuronen im äußeren (lateralen) Teil des DCN zu identifizieren, die durch den Verzehr von Nahrung aktiviert wurden. Die künstliche Aktivierung von Lateral-DCN-Neuronen bei Mäusen mit einer Technik namens Chemogenetik führte zu einer deutlichen Reduzierung der Nahrungsaufnahme.

Während die Häufigkeit der Mahlzeiten und die Schnelligkeit des Essens dadurch nicht beeinflusst wurden, wurden sowohl die Mahlzeitengröße als auch die Dauer des Essens reduziert. Das deutet darauf hin, dass diese Lateral-DCN-Neuronen an der Beendigung der Mahlzeit beteiligt sind.

Darüber hinaus traten diese Effekte der künstlichen Aktivierung von Lateral-DCN-Neuronen auf die Nahrungsaufnahme unabhängig davon auf, ob die Mäuse hungrig oder gefüttert waren. Auch der Geschmack des Futters beeinflusste diese Ergebnisse nicht.

Anschließend verwendeten die Autoren hochauflösende Genexpressionsprofilierungstechniken, um die molekularen Eigenschaften der „nahrungsmittelaktivierten“ Lateral-DCN-Neuronen zu identifizieren. Dabei wurde auch die Expression von Markergenen untersucht, die sie von anderen Lateral-DCN-Neuronen unterscheiden. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine bestimmte Klasse von exzitatorischen Neuronen im lateralen DCN aktiviert wird.

Die neuronalen Schaltkreise, die das Fressverhalten regulieren, werden oft unterteilt in solche, die die Nahrungsaufnahme auf der Grundlage des „Bedürfnis“- oder Hungerzustands regulieren, und solche, die die Nahrungsaufnahme auf der Grundlage von „Wollen“ oder belohnungsbasierter Nahrungsaufnahme beeinflussen. Vereinfacht ausgedrückt: Unser Trieb zu essen bewegt sich zwischen Lust und Genuss auf der einen Seite und Hunger oder Sättigung auf der anderen Seite.

Gleichzeitig wird angenommen, dass eine Gehirnregion namens Hypothalamus von zentraler Bedeutung für die Vermittlung von Hungerreaktionen ist, während die Signalgebung durch das Neurotransmitter-Molekül Dopamin mit den lohnenden Eigenschaften des Essens in Verbindung gebracht wird.

Die meisten Forschungen, wie das Gehirn die Nahrungsaufnahme steuert, konzentrieren sich auf den Hypothalamus oder auf Regionen, die stark damit verbunden sind.

Bei der neuen Studie zeigte sich jedoch, dass die Neuronen im lateralen DCN Nervenzellen im Hypothalamus außer Kraft setzen können. Die künstliche Aktivierung von hypothalamischen Neuronen erhöht die Nahrungsaufnahme durch ein Protein namens AgRP.  Neuronen im lateralen DCN können dies stoppen. Das belegt bidirektionale neuronale Verbindungen vom Kleinhirn mit dem Hypothalamus.

Es ist auch möglich, so die Forscher, dass Projektionen von Lateral-DCN-Neuronen und AgRP-exprimierenden Neuronen auf gemeinsame nachgelagerte Ziele konvergieren, um die Nahrungsaufnahme zu unterdrücken.

Dopamin ist an der Regulierung verschiedener motivierter Verhaltensweisen beteiligt. Die Autoren fanden heraus, dass der basale Dopaminspiegel im ventralen Striatum – einem Teil des Gehirns, von dem bekannt ist, dass er Belohnungen verarbeitet – nach der künstlichen Aktivierung von Lateral-DCN-Neuronen anstieg. Die Aktivierung von Lateral-DCN-Neuronen schwächte die schnelle, vorübergehende Freisetzung von Dopamin im ventralen Striatum jedoch auch ab.

Der Zusammenhang zwischen der Dopamin-Signalgebung und der Nahrungsaufnahme ist komplex, da sowohl hohe als auch niedrige Dopaminspiegel mit einem erhöhten Fressverhalten in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus kodieren Dopamin-Neuronen verschiedene Arten von Informationen im Zusammenhang mit sensorischem Input, Motivation und Lernen.

Die aktuelle Studie kann durch die Linse breiterer Modelle der Dopaminfunktion betrachtet werden. Die Forscher betonen die Rolle dieses Neurotransmitters beim Ausgleich von Energieeinsparung und –verbrauch.  Die Studienautoren vermuten, dass das Kleinhirn als „Bremse“ für neuronale Netze fungieren könnte, die die Nahrungsaufnahme fördern.

Das Kleinhirn ist allgemein für seine Rolle bei der Koordination und Kalibrierung von Bewegungen bekannt. Es wurde auch vorgeschlagen, dass das Kleinhirn sogenannte interosensorische Informationen filtert – sensorische Informationen, die einen inneren Zustand kodieren.

Allerdings ist noch unklar, welche sensorischen Bahnen und welche Zelltypen die Aktivität von Lateral-DCN-Neuronen beeinflussen. Dass Lateral-DCN-Neuronen die Aktivität sowohl des Hypothalamus- als auch des Dopamin-Wegs modulieren können, legt nahe, dass das Kleinhirn einen ähnlichen Balanceakt für die Beendigung von Mahlzeiten vollbringen könnte – mit klaren Konsequenzen dafür, wie viel wir essen.

Quelle:

Low AYT, Goldstein N, Gaunt JR, Huang KP, Zainolabidin N, Yip AKK, Carty JRE, Choi JY, Miller AM, Ho HST, Lenherr C, Baltar N, Azim E, Sessions OM, Ch’ng TH, Bruce AS, Martin LE, Halko MA, Brady RO Jr, Holsen LM, Alhadeff AL, Chen AI, Betley JN. Reverse-translational identification of a cerebellar satiation network. Nature. 2021 Nov 17. doi: 10.1038/s41586-021-04143-5. Epub ahead of print. PMID: 34789878. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34789878/)

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